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Holger J. Haberbosch
Rechtsanwalt und
Fachanwalt für Erbrecht
Fachanwalt für Steuerrecht
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Rechtsgebiete:

– Erbrecht
– Steuerrecht
– Steuerstrafrecht

Anwendung der Auslegungsregel des §2350 BGB

Die Auslegungsregel des §2350 BGB darf nur dann zur Anwendung kommen, wenn nach dem tatsächlichen Willen der Parteien keine Feststellung getroffen werden kann.

BGH, Urteil vom 17. 10. 2007 – IV ZR 266/06

BGB §§ 2350, 2346

Sachverhalt:

Der Kl. war 1981 durch Testament zum Alleinerben seines Vaters, des 2002 verstorbenen Erblassers (E), eingesetzt worden. 1987 schloss dieser mit seinem zweiten Sohn, dem Bruder des Kl. (B), einen notariellen „Erbschafts- und Pflichtteilsverzichtsvertrag”. Mit notariellem Erbvertrag vom 11. 9. 2000 setzte E den Bekl., seinen Cousin, zum Alleinerben ein. Der Kl. will festgestellt wissen, dass ihm nach E ein Pflichtteilsanspruch von 50 % zustehe. Der Bekl. ist hingegen der Ansicht, der Kl. sei nur zu 25 % pflichtteilsberechtigt, da B aufgrund der Unwirksamkeit seines Verzichts bei der Berechnung des Pflichtteils zu berücksichtigen sei (§§ 2310, 2350 BGB). Auf die Berufung des Bekl. hat das BerGer. das stattgebende Urteil des LG aufgehoben und die Feststellungsklage abgewiesen (OLG Düsseldorf v. 29. 9. 2006, I-7 U 22/06). Mit seiner Revision begehrt der Kl. die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.

Gründe:


Die Revision hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Sache an das BerGer.


I. Nach Auffassung des BerGer. gebührt dem Kl. nur eine Pflichtteilsquote von 25 %, da B bei der Berechnung des Pflichtteils nach § 2310 Satz 1 BGB mitzuzählen sei. Dessen Erbverzicht sei bereits wegen der Vermutung des § 2350 BGB unwirksam; dem Tatsachenvortrag des Bekl. zur Unterstützung dieser Vermutung habe daher nicht nachgegangen werden müssen. Der Tatsachenvortrag des Kl. gegen einen Erbverzicht unter der Bedingung seiner Erbeinsetzung sei unbeachtlich, weil es insofern auf den Willen beider Vertragsparteien ankomme, ein entsprechender Wille des E jedoch nicht festgestellt werden könne. Eine teleologische Reduktion des § 2350 BGB sei nicht geboten. Dessen Schutzzweck ziele darauf, eine ungewollte Begünstigung nachfolgender Erbordnungen oder Dritter durch deren verzichtsbedingtes Nachrücken in die Erbenstellung zu verhindern. Auf den Pflichtteilsverzicht finde § 2350 BGB aber keine Anwendung, da er ausschließlich die erbrechtliche Stellung der Beteiligten betreffe; er diene deshalb nicht der Erhaltung oder Erhöhung von Pflichtteilsansprüchen. Bei einer Pflichtteilsquote von 25 % verbleibe es auch, wenn man mit dem LG von einer Unwirksamkeit des Erb-, nicht aber des Pflichtteilsverzichts des B ausgehe. Dass dem Bekl. wirtschaftlich 75 % des Nachlasses verblieben, sei nicht Rechtsfolge des Erb-, sondern des Pflichtteilsverzichts.


II. Ob diesen Erwägungen des BerGer. zu § 2350 BGB beizutreten ist, kann offen bleiben; sie sind nicht entscheidungserheblich. Die von ihm gesehene Zulassungsfrage nach der Reichweite des Schutzzwecks dieser Norm stellt sich nicht. Gleichwohl ist der Senat an die Revisionszulassung gebunden (§ 543 Abs. 2 Satz 2 ZPO).


Das Berufungsurteil ist schon deshalb aufzuheben, weil das BerGer. verfahrensfehlerhaft auch aus seiner Sicht entscheidungserheblichen Vortrag des Kl. zu einer Abtretung des Pflichtteilsanspruchs des B nicht berücksichtigt hat bzw. daran anknüpfenden Hinweispflichten (§ 139 ZPO) nicht nachgekommen ist.


1. a) Der Kl. hat erst- und zweitinstanzlich unter Vorlage einer Kopie eines Abtretungsvertrags vom 28. 7. 2004 vorgetragen, dass B den ihm zustehenden Pflichtteilsanspruch an ihn abgetreten habe. Dem ist der Bekl. nicht substanziiert entgegengetreten. Soweit er eingewendet hat, dass die vorgelegte Abtretungsvereinbarung nicht sämtliche zwischen dem Kl. und B getroffenen Absprachen wiedergebe und die Abtretung tatsächlich entgeltlich erfolgt sei, berührt dies die Wirksamkeit nicht. Damit ist die Abtretung als unstreitig zugrunde zu legen (§ 138 Abs. 3 ZPO).


b) Im Ansatz zutreffend nimmt das BerGer. an, dass der Klageantrag („Es wird festgestellt, dass dem Kl. ein Pflichtteilsanspruch i. H. von 50 % … zusteht.”) den abgetretenen Pflichtteilsanspruch nicht umfasst. Trotz Abtretung handelt es sich weiterhin um einen Pflichtteilsanspruch des Zedenten. Er steht als geldwerter Zahlungsanspruch mit der Abtretung zwar nunmehr dem Zessionar zu, gleichwohl hat er sich durch die Abtretung nicht in der Person des Kl. in dessen eigenen, originären Pflichtteilsanspruch verwandelt, auf den sich der Klageantrag nach seiner insoweit unmissverständlichen Formulierung allein bezieht.


c) Unzutreffend legt das BerGer. im Weiteren allerdings zugrunde, der Kl. habe „deutlich gemacht, dass es aus seiner Sicht auf die Abtretung gerade nicht ankam”. Dass der Kl. fälschlich davon ausging, mit dem gestellten Antrag auch den Pflichtteilsanspruch des B erfasst zu haben, kommt sowohl in seinen gerichtlichen als auch außergerichtlichen Schriftsätzen klar zum Ausdruck. Diesen lässt sich ohne weiteres entnehmen, dass es dem Kl. zu keinem Zeitpunkt auf die bloße Feststellung einer originären Beteiligungsquote am Nachlass, sondern stets auf das daraus resultierende wirtschaftliche Gesamtergebnis ankam, 50 % vom Nachlass zugesprochen zu bekommen, sei es über eine eigene oder eine abgeleitete Pflichtteilsberechtigung, auf die der Kl. hilfsweise seinen Anspruch gestützt hat.


d) Diese offenkundige und – je nach den noch zu treffenden Feststellungen – möglicherweise auch entscheidungserhebliche Diskrepanz zwischen Klageantrag und tatsächlichem Klageziel hätte für das BerGer. Anlass zu einem Hinweis nach § 139 Abs. 1 Satz 2 ZPO sein müssen (vgl. BGH v. 4. 12. 1980, IVa ZR 32/80, BGHZ 79, 76, 79, NJW 1981, 870; v. 12. 6. 1980, IVa ZR 9/80, NJW 1980, 2524 unter III.; v. 6. 6. 1977, III ZR 53/75, WM 1977, 1201 unter 5.b). Das gilt auch bei einer anwaltlich vertretenen Partei, wenn der Anwalt wie hier die Rechtslage ersichtlich falsch beurteilt (BGH v. 12. 7. 2005, VI ZR 83/04, BGHZ 163, 351, 361 f., NJW 2006, 1271). Bereits dieser Verfahrensfehler zwingt zur Aufhebung des Berufungsurteils.


2. Eine eigene Sachentscheidung ist dem Senat mangels Entscheidungsreife verwehrt (§ 563 Abs. 3 ZPO). Es bedarf zunächst weiterer Tatsachenfeststellungen zu den – umstrittenen – beiderseitigen Vorstellungen der Vertragsparteien über Umfang und Wirkung des Erbverzichts insgesamt bzw. eines isolierten Pflichtteilsverzichts. Für das weitere Verfahren weist der Senat dazu auf Folgendes hin:

Vorrang individueller Auslegung vor Auslegungsregel des § 2350 BGB


a) Bei einem unbeschränkten Verzicht nach § 2346 Abs. 1 BGB teilt der Pflichtteilsverzicht (§ 2346 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 BGB) grundsätzlich das rechtliche Schicksal des Erbverzichts (vgl. Staudinger/Schotten, BGB, 2004, § 2350 Rn. 16; offenbar auch Soergel/Damrau, BGB, 13. Aufl., § 2350 Rn. 2; Tschichoflos, in: Frieser, KK-ErbR, § 2350 Rn. 12; Kretzschmar, Das ErbR des Dtsch. BGB, 2. Aufl. 1913, S. 395 Fn. 22; Johannsen, in: RGRK-BGB, 12. Aufl., § 2350 Rn. 5). Die Unwirksamkeit des Erbverzichts hat das BerGer. allerdings vorschnell mit § 2350 BGB begründet. Dieser enthält zwei Auslegungsregeln. § 2350 BGB kann danach erst zur Anwendung kommen, wenn erfolglos versucht wurde, den Willen der beiden Parteien des Verzichtsvertrags zu ermitteln (Staudinger/Schotten, § 2350 Rn. 10, 25; Kuchinke, in: FS Kralik, S. 452; Strobel, in: MüKo-BGB, 4. Aufl., § 2350 Rn. 10). Dabei liegt die Beweislast beim Kl., da dieser entgegen den Vermutungen des § 2350 BGB aus einem unbedingten Verzicht Rechte herleiten will (vgl. RG, LZ 1926, 1006; Erman/Schlüter, BGB, 11. Aufl., § 2350 Rn. 6; Klingelhöffer, PflichtteilsR, 2. Aufl., Rn. 360).


Vom Kl. hierzu angebotene Beweise hat das BerGer. mit unzutreffender Begründung nicht erhoben. Seine Annahme, der Kl. habe lediglich behauptet, dass (nur) B von einem unbedingten Verzicht ausgegangen sei, reißt in unzulässiger Weise eine einzelne Aussage des Kl. aus ihrem Zusammenhang. Sein Gesamtvortrag im Wechselspiel mit dem Vortrag des Bekl. lässt keinen Zweifel daran, dass er zum übereinstimmenden Willen beider Verzichtsvertragsparteien Beweis antreten wollte. Das BerGer. wird deshalb den dazu angebotenen Beweisen nachzugehen haben.

Ggf. Vorliegen eines isolierten Pflichtteilsverzichts …


b) Sollte eine Überzeugungsbildung danach nicht möglich sein, stünde auch nach der vom BerGer. nachvollziehbar erwogenen Anwendung des § 2350 BGB noch nicht fest, dass B ein Pflichtteilsanspruch zusteht. Vielmehr stellte sich dann im Rahmen des § 139 BGB, der auf den Verzicht als Rechtsgeschäft unter Lebenden Anwendung findet (Palandt/Edenhofer, BGB, 66. Aufl., § 2346 Rn. 2), die Frage, ob die Parteien des Verzichtsvertrags bei Unwirksamkeit eines Gesamtverzichts nicht zumindest einen isolierten Pflichtteilsverzicht (§ 2346 Abs. 2 BGB) gewollt hätten (vgl. BGH v. 14. 11. 2000, XI ZR 248/99, BGHZ 146, 37, 47, NJW 2001, 815; v. 5. 6. 1989, II ZR 227/88, BGHZ 107, 351, 355 f., NJW 1989, 2681; v. 19. 9. 1988, II ZR 329/87, BGHZ 105, 213, 220 f., NJW 1989, 834). Darüber eröffnete sich die Möglichkeit, einen unwirksamen Erbverzicht i. S. des § 2346 Abs. 1 als einen Pflichtteilsverzicht i. S. des § 2346 Abs. 2 BGB aufrechtzuerhalten. Dies hängt davon ab, welche Entscheidung die Parteien des Verzichtsvertrags bei Kenntnis der Sachlage nach Treu und Glauben und bei vernünftiger Abwägung getroffen hätten (BGH v. 30. 1. 1997, IX ZR 133/96, NJW-RR 1997, 684 m. w. N.). Beide Parteien haben hierzu bereits Beweis angetreten. Die Beweislast für die Tatsachen, aus denen sich ergibt, dass ein isolierter Pflichtteilsverzicht auch ohne den unwirksamen Erbverzicht vorgenommen worden wäre, liegt dabei beim Bekl. (vgl. Senat v. 6. 11. 1985, IVa ZR 266/83, NJW-RR 1986, 346 unter IV.3). In diesem Zusammenhang wird sich das BerGer. auch – ggf. nach ergänzendem Parteivortrag – mit der Wirkung einer für den Pflichtteilsverzicht evtl. gezahlten Abfindung zu befassen haben (vgl. Kuchinke, a. a. O., S. 453; Hau, in: jurisPK-BGB, 3. Aufl., § 2350 Rn. 3; J. Mayer, in: Bamberger/Roth, BGB, § 2350 Rn. 7; Soergel/Damrau, § 2350 Rn. 7; Staudinger/Schotten, § 2350 Rn. 25).

… oder eines bedingten Erbverzichts

c) Eine solche Beweisaufnahme wäre auch außerhalb des vom BerGer. gezogenen Anwendungsbereichs des § 2350 BGB notwendig, um die Vereinbarung eines dann in Betracht kommenden gewöhnlichen bedingten Erbverzichts nachzuvollziehen (vgl. Staudinger/Schotten, § 2350 Rn. 5). Erst wenn auch insoweit keine Überzeugungsbildung möglich sein sollte, kann die Rechtsfrage nach einer teleologischen Reduktion des § 2350 BGB, die das BerGer. zur Revisionszulassung veranlasst hat, entscheidungserheblich werden.